Die Idee – Was kann ein Pferd bewirken?
Am anschaulichsten lässt sich dies vielleicht an einem Beispiel aus der Praxis verdeutlichen:
Es ist Mittwochvormittag, die Stalltür öffnet sich und eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern betritt den Stall. Die Pferde schauen kurz interessiert auf, dann erfüllt wieder das Geräusch ihres genussvollen Kauens von Heu und Stroh die Stallgasse, kurz unterbrochen von einem kräftigen Schnauben oder dem Rauschen der Tränke. Es ist Winter, man sieht den warmen Atem der Pferde und nimmt den Geruch von Heu wahr. Mit Ankunft der Kinder kommt schnell eine Lebendigkeit in den Stall, es entsteht ein Raum für Freude und Neugierde, für Bewegung und ein Miteinander ebenso wie für Zurückhaltung, Beobachten und sich selbst spüren und kennen lernen.
Auch Tobi (Name geändert) ist heute dabei. Er nimmt regelmäßig am zum Schulunterricht gehörenden Angebot des Therapeutischen Reitens teil. Schon von Weitem begrüßt er das Therapiepferd durch lautes Rufen und Winken. Sein Strahlen und Lachen verrät seine Vorfreude, laufend bewegt er sich durch die Stallgasse. Tobi agiert durchweg mit erhöhtem Ausführungstempo, es fällt ihm schwer seine Bewegungsimpulse und seine Kraftdosierung der tatsächlichen Notwendigkeit anzupassen. Spiel und Gefahr sind für ihn schwer zu unterscheiden, Regeln zu akzeptieren stellt für ihn eine große Herausforderung dar. Nahezu alles in seiner Umgebung scheint Tobis Aufmerksamkeit zu wecken, dadurch ist es ihm nur mit viel Unterstützung möglich, sich einer Aufgabe für kurze Zeit konzentriert zu widmen.
Das Pferd ist groß und stark, drückt aber ebenso Sanftheit und Ruhe aus. Es bietet Tobi ausreichend Widerstand, um seiner körperlichen Kraft Stand zu halten, signalisiert ihm aber auch, welche Formen des Kontakts angenehm (z.B. streicheln, liebkosen) und welche nicht erlaubt sind (z.B. schreien, toben). Vermittelt über das Pferd kann Tobi diese Regeln besser annehmen und in sein Verhalten integrieren, da er versteht, dass sie für das Wohlbefinden des Pferdes wichtig sind. Tobi kennt mittlerweile die strukturierten Abläufe und klaren Regeln im Umgang mit dem Pferd. Schon bei der Pflege und Versorgung des Pferdes lernt Tobi seine Impulsivität zu steuern, er kann Verantwortung übernehmen und vielfältige Wahrnehmungserfahrungen machen. Auf dem Pferderücken wird der sonst so laute, immer unter Spannung stehende Tobi plötzlich ganz ruhig. Hier hat er einen klaren Platz gefunden, er erlebt Bewegungsreize und kann sich selbst spüren ohne in seinem überhöhten Ausführungstempo agieren zu müssen. Das Wahrnehmen des gleichbleibenden Bewegungsrhythmus des Pferdes wirkt zentrierend und beruhigend auf ihn. Der Bewegungskontakt mit dem Pferd geschieht aber auch vom Boden aus. Tobi ist mittlerweile in der Lage das Pferd in der Reithalle zu führen. Sichtlich stolz ist er, wenn das Pferd dorthin geht, wo auch er hingehen möchte. Immer wieder schaut er mit großen Augen zum Pferd hin, spricht mit ihm, streichelt es sanft über den Hals, wenn es zögert und stehen bleibt, und übt sich darin, seinen Bewegungsdrang zu regulieren und sich dem Bewegungstempo des Pferdes anzupassen.
Zum Abschluss jeder Therapiestunde belohnt Tobi seinen Freund immer gerne mit Möhren, Äpfeln und Bananen. Liebevoll streichelt er dem Pferd über die Nase und sagt: „Toll gemacht, mein Großer!“
Pferde sind ganz wunderbare Helfer in der Therapie und bieten in ihrem Einsatz vielfältige Möglichkeiten, da sie den Menschen ganzheitlich ansprechen. Ziele der Förderung beziehen sich auf
Natürlich stechen Pferde besonders durch ihre Fähigkeit, den Menschen tragen zu können, hervor. Durch die dreidimensionale Bewegung – das Pferd bewegt den Reiter nach vorne und hinten, nach rechts und links, nach oben und unten – nimmt es Einfluss auf die gesamte Muskulatur des Menschen. Dieser komplexe, rhythmische Bewegungsablauf des Pferdes kann in Verbindung mit angeleiteten Übungen auf dem Pferderücken genutzt werden, um Haltungs-, Gleichgewichts- und Stützreaktionen zu trainieren, Koordination und Beweglichkeit zu verbessern wie auch gleichzeitig zur muskulären Entspannung beizutragen.
- … die Förderung der verschiedenen Wahrnehmungsebenen
Sehen, Fühlen, Hören, Riechen …. alle Sinne des Menschen werden durch das Tier angesprochen. Dabei geht es nicht nur um das Reiten im engeren Sinne, sondern das ganze „Drumherum“ im Umgang mit dem Pferd spielt eine ebenso wichtige Rolle. Der direkte Kontakt zum Tier ist immer gegeben, egal ob das Pferd gepflegt wird, Übungen am oder auf dem Pferd durchgeführt werden oder Arbeiten im Stall verrichtet werden. So muss beispielsweise schon bei der Pflege des Pferdes der Körper immer dem Putzvorgang angepasst werden. Arme und Beine werden gestreckt, um Rücken, Hals, Kruppe und Mähne des Pferdes zu erreichen, oder ein Beugen ist erforderlich beim Putzen von Bauch und Beinen. Kraftdosierung ist dabei ebenso gefordert wie auch ein sensibles Spüren und Erkunden der unterschiedlichen Beschaffenheit des Pferdekörpers und der Bedürfnisse und Vorlieben des Tieres. Der sensorischen Wahrnehmungsschulung sind nahezu keine Grenzen gesetzt. Sie ist in ihrer Umsetzung mit dem Pferd äußerst vielfältig, dazu individuell gestaltbar und gleichzeitig spielerisch und äußerst praxisorientiert durchführbar. Werden die Basissinne auf der Wahrnehmungsebene gestärkt und ausgebaut, werden auch Selbstvertrauen und Körperschema in ihrer Entwicklung positiv unterstützt.
- … die Förderung auf sozial-emotionaler Ebene
Pferde sind geradezu Experten darin, die Körpersprache ihres Gegenübers sensibel wahrzunehmen und mit ihrem eigenen Verhalten entsprechend darauf zu reagieren. Das heißt, Pferde nehmen nicht in erster Linie verbale Äußerungen wahr, sondern vielmehr die menschlichen Stimmungen, die innere Befindlichkeit – also all das, was der Mensch gerade fühlt und mit seinem Körper (zum Teil durch kleinste, durchaus unbewusst gesendete Signale) ausdrückt. Durch ihre offenkundigen, direkten und unverfälschten Reaktionen geben Pferde unmittelbar Rückmeldung. In dieser Reaktion, und das macht das Tier für den therapeutischen und pädagogischen Zweck so wertvoll, ist es völlig wertfrei, ehrlich und frei von Vorurteilen, es agiert ohne Erwartungsdruck und rein situationsbezogen. Besonders Kinder und Jugendliche können es oftmals viel besser annehmen, wenn das Tier ihnen den Spiegel ihres Verhaltens vorhält (z.B. auf Angst, Wut, Unsicherheit, fehlendes Selbstvertrauen, Impulsivität hinweist) als wenn dies ein Erwachsener tun würde. Sie können ihr eigenes Verhalten aus der Sicht des Tieres betrachten und sind eher bereit daran etwas zu ändern, um ihre Beziehung zum Tier zu verbessern und auf dessen Bedürfnisse einzugehen. Der Umgang mit dem Pferd erfordert Vertrauen aber ebenso auch den nötigen Respekt und die Achtsamkeit gegenüber dem Tier. Regeln müssen eingehalten werden, Geduld und Rücksichtnahme sind gefordert ebenso wie auch die Übernahme von Verantwortung beispielsweise bei der Versorgung des Tieres. Werden diese Herausforderungen Schritt für Schritt bewältigt, wirkt sich dies äußerst positiv auf das Selbstwertgefühl aus und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten wächst. So manch einer wächst über sich hinaus, überwindet Ängste, findet Ruhe und Entspannung, kann Nähe zu anderen erfahren und soziale Fertigkeiten erlernen.